Interpretation „offensichtlich unbegründet“

Da eine Entscheidung über die Unzulässigkeit einer Beschwerde eine vorweggenommene Entscheidung darüber darstellt, dass mögliche Menschenrechtsverletzungen nicht beurteilt werden, darf die Klassifizierung als „offensichtlich unbegründet“ in der Konvention nicht zu weit ausgelegt werden, da das zu einem Mangel an Schutz der Menschenrechte führen könnte und den Zielen der Konvention direkt widersprechen würde.

Der „Leitfaden zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen“ führt in Teil III „Unzulässigkeit aus materiellen Gründen“ an, dass offensichtlich nicht im wörtlichen Sinn gelesen werden darf, sondern „der Begriff weiter und im Hinblick auf den Ausgang des Verfahrens zu verstehen ist“ und „wird eine Beschwerde als offensichtlich unbegründet angesehen, wenn eine erste Untersuchung der Begründetheit keinen Anschein einer Verletzung der Konventionsrechte erkennen lässt“.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass ein erheblicher Unterschied besteht zwischen „nicht offensichtlich begründet“ und „offensichtlich unbegründet“, der eine weite Lücke lässt, bei der Offensichtlichkeit weder für „begründet“ noch für „unbegründet“ besteht. Die Interpretation im Leitfaden zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen wäre akzeptabel, wenn die Wortsetzung in der Konvention Unzulässigkeit basierend auf „nicht offensichtlich begründet“ vorsähe, aber das ist nicht der Fall.

Selbst im weiten Sinn, der im Leitfaden zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen postuliert wird, kann die Charakteristik „offensichtlich unbegründet“ nicht ein positives Ergebnis einer ersten Untersuchung der Substanz des Falles als Voraussetzung der Zulässigkeit fordern. Den Prinzipien einfacher Logik folgend kann „offensichtlich“ nur dann als erfüllt gelten, wenn eine vorläufige Prüfung mit Sicherheit ausschließen kann, dass eine Verletzung der in der Konvention garantierten Rechte vorliegen könnte.

Das bedeutet, dass die Basis für eine solche Entscheidung nicht im Fehlen eines Nachweises, dass die in der Konvention garantierten Rechte verletzt wurden, liegen kann, sondern nur im Nachweis, dass diese Rechte zweifelsfrei nicht verletzt wurden, Solange die Eigenschaft „unbegründet“ nicht in dieser Form als „offensichtlich“ beurteilt wurde ist es die Aufgabe des Gerichts, den Inhalt des Falles zu analysieren und ein Urteil zu fällen.

Wenn eine Organisation die selbst getroffenen Fallentscheidungen (case-law) über das Recht (die Konvention) stellt, wird das Prinzip der „Hoheit des Rechts“ verworfen und Willkür beginnt. An dieser Entwicklung kann kein ehrenhafter Richter des EGMR interessiert sein.